Annas Tour durch Katutura
Mit dem Fahrrad durch das andere Windhoeck
Ihr Lachen war das erste, was auffiel und noch bis heute nachhallt: rau, laut, ein wenig derb, voller Lebensfreude und gleichzeitig voller Leid. Anna Mafwila ist die Gründerin von Katu Tours und bietet Stadtführungen mit dem Fahrrad durch das ehemalige Township Katutura im Nordwesten Windhoeks an.
Wir treffen sie an einem dieser gemauerten Verschläge am Rande des Soweto Markets in der Independence Avenue. Es ist noch früh am Morgen. Vor den Verkaufsbuden sitzen Zöpfeflechterinnen. Sie scherzen und lachen, flechten mit geschickten Bewegungen ihrer Hände tausende kleiner Zöpfe in die schwarzgelockten Haare ihrer Kundinnen. Neugierig schauen sie uns nach. Weiße gehören in Katutura immer noch nicht zum gewöhnlichen Stadtbild.
Mühsam zerrt Anna die Gittertür zu ihrem Geschäftsraum auf, ein kleiner Schuppen überfüllt mit Fahrrädern. Unter der Theke lagern Helme und Sicherheitswesten.
„Vor einiger Zeit habe ich mir eine Verletzung an der Schulter zugezogen“, entschuldigt sie das mühsame Öffnen der Fensterlade oberhalb der Theke. Ihre rechte Schulter hängt leicht nach unten. Wir helfen ihr.
Sie ist eine kleine, schmale, drahtige Person. Ihre langen, schwarzen und roten Rastazöpfe fallen über Schultern und Rücken und passen gut zu dem Farbspiel ihrer bunten Kleidung: Sie trägt eine rote Strickjacke mit rosa Tupfen und tiefem Ausschnitt. Um ihre Taille ist ein afrikanisch-buntes Tuch geschlungen, darunter eine weite, rotgemusterte Haremshose und Sneakers.
Wegen ihrer Verletzung wird sie mit dem Auto vor uns herfahren. Das sei jedoch gar kein Problem, versichert sie uns. Und schon sind wir mittendrin – mittendrin in Annas Welt, in einer Welt, die so anders ist, als das Namibia, das wir bisher kennengelernt haben und doch die Realität eines Großteils der Bevölkerung wiederspiegelt. Eine Realität zwischen Krankheit und Tod, zwischen Armut, Traditionen, Gewalt und Leid, aber auch Hoffnung, Schönheit, Neuanfang und pulsierendem Leben.
„Die Kinder in Katutura gehen zur Schule. Welche Chance haben sie jedoch, wenn ihre Familien zu Hause sie nicht unterstützen können?“ Anna lehnt sich über ihre Ladentheke und zeigt uns ein, wie sie sagt, typisches Schulabschlusszeugnis einer jungen Frau aus dem Stadtteil. „f“, also „failed“, hängt vielen Fächern an. Warum das so ist, liegt nach Annas Aussage hauptsächlich daran, dass die Familien inhaltlich nicht helfen können. Die Schulinhalte stehen in einem großen Widerspruch zu dem Leben nach der Schule – in den einfachen Häusern und Hütten des Stadtteils, häufig ohne sanitäre Einrichtungen, beengt und heiß. Eigentlich ähnlich wie in Deutschland, denken wir: Kinder, die in bildungsfernen Familien aufwachsen, haben weniger Chancen auf gute Schulabschlüsse.
„Mit einem solchen Zeugnis wird die junge Frau kaum den Weg aus Katutura herausschaffen“, so Anna. „Sie wird Zöpfe flechten, Gemüse verkaufen, oder möglicherweise in die Prostitution gedrängt.“ Dann philosophiert sie über Chancengleichheit, die Geschichte von Namibia, die Ausbeutung der ursprünglichen Gesellschaft und die moderne Sklaverei, über Frauenpower und eigenverantwortliches Handeln. Wenn Anna erzählt, kann man nicht anders, als gebannt an ihren Lippen zu hängen. Sie ist einer dieser Menschen, die eine unmittelbare Präsenz einfordern.
Der informelle Sektor hilft zum überleben
Wir bugsieren die Fahrräder aus dem Schuppen, stellen sie auf unsere Größe ein und drehen vorsichtig eine Proberunde über den Soweto Market. Die Zöpfeflechterinnen winken uns nun schon fröhlich zu und scherzen mit Anna. Nachdem jeder, ein wenig missmutig bei der Hitze, einen Helm aufgezogen hat, geht es los. Anna fährt mit ihrem kleinen Jeep vor uns her, der erste von uns hat ihre Abgase in der Nase. Doch bald riecht es schon nach gegrilltem Fleisch. Es ist Samstag und einige der Straßenzüge des Viertels pulsieren voller Menschen. Junge Leute stehen am Straßenrand, aus wahrhaftigen Ghettoblastern ertönt laute Musik, an einem Seitenstreifen stehen Männer an großen Grillrosten und wickeln appetitlich duftende Fleischsteifen für ihre Kunden in Zeitungspapier. Der informelle Sektor blüht in Katutura, insbesondere bei Nahrungsmitteln.
Anna folgt unseren sehnsuchtsvollen Blicken hinter knurrenden Mägen. „Hier solltet ihr noch nichts essen. Das bekommt euren weißen Mägen nicht.“ Ihr etwas derbes Lachen ertönt wieder. Dann deutet sie auf die am Boden liegenden Schlachtabfälle. „Hier gibt es keine Hygienevorschriften. Und auf diesem Straßenmarkt gibt es auch noch keine Toiletten und kein fließendes Wasser, damit sich die Männer nach dem Pinkeln hinter den Schuppen die Hände waschen können, bevor sie weitergrillen.“
Dennoch sind diese Straßen-Imbisse überlebenswichtig für die Menschen des ehemaligen Townships. Hier können die, deren durchschnittliches Einkommen bei rund 2000 Namibischen Dollar, rund 140 Euro, monatlich liegt, für wenig Geld satt werden. „Eine Cola kostet hier so viel, wie ein ganzes Mittagessen mit Fleisch, Maniokbrei und Tomatensalat.“ Das dürfen wir später selber testen.
Die Scheu vor Katutura verlieren
Doch erst einmal geht es einen Hügel hinauf, um bei einen Stopp einen Blick über eine typische Wohnsiedlung von Katutura zu werfen: Hinter gemauerten kleinen Häusern befinden sich zahlreiche Hütten aus Wellblech. Anna erklärt uns, dass sie diese Stadttour nicht anbietet, damit die Touristen die Armut und das Elend begaffen können. Es sei eine Tour, die Touristen und auch Einheimischen diesen Teil Namibias nahebringen, Menschen zusammenbringen und die Scheu vor Katutura nehmen soll. „Aus Respekt vor den dort lebenden Menschen fahren wir in diese Wohngebiete nicht direkt hinein“, so Anna. Und dann fügt sie grinsend hinzu „Und auch, weil ich gerne mein Material am Abend wieder in meinem Schuppen stehen haben möchte.“
Ob Humor oder Sarkasmus, Anna weiß wovon sie redet. Sie stammt aus einer Namibianischen Familie, ihr Vater war Militärarzt, wie sie erzählt. Ihre Familie floh während der Freiheitskämpfe der SWAPO (South West African Peoples Organisation) gegen die Südafrikanische Verwaltung nach Angola und sie wurde in einem Flüchtlingslager geboren, bevor ihre Familie mit ihr als Teenager nach Katutura zurückkehrte.
„Der Ort an dem wir nicht sein wollen“
Nach dem ersten Weltkrieg ging die deutsche Kolonie Namibia ins Mandat von Südafrika über. Nach dessen Vorbild der Rassentrennung entschied man 1950, die Innenstadt von Windhoek von Schwarzen zu „säubern“ und ein Township im Nordwesten der Stadt zu errichten. Auch hier wurden die verschiedenen Stämme feinsäuberlich identifiziert. In großen Lettern standen beispielsweise ein H für Herero, ein D für Damara, ein S für San an den Türen der Hütten. „Katutura – der Ort an dem wir nicht sein wollen“, nannten die neuen Bewohner ihren Stadtteil, den sie wiederwillig und unter blutigen Protesten schließlich besiedelten.
„Zwei Drittel der Bevölkerung von Windhoek lebt hier in Katutura“, bemerkt Anna noch, bevor es weitergeht. „Der Stadtteil kämpft mit der Überbevölkerung.“ Er sei aber auch der einzige, den sich der „Durchschnitts-Schwarze“ leisten kann.
Wir radeln dankbar über etwas Fahrtwind den Hügel hinunter und halten vor einem größeren eingezäunten Gebäude, vor dem einige Kinder auf einer Mauer sitzen. Sie winken und krakeelen. Wir winken zurück und Anna ruft zu ihnen herüber. Wie es ihnen gehe und was sie denn so machen, fragt sie und die Kinder rufen undefinierte Antworten zurück, kichernd, feixend und lachend.
Langeweile ist ein großes Problem
„Dies ist ein Kinderheim, hier leben Aids-Waisen“, erklärt Anna, wieder zu uns gewandt. 15 Prozent der der 20- bis 40jährigen Namibianer sind HIV positiv – das sind die offiziellen Zahlen. Anna jedoch bekräftigt, dass die Dunkelziffer gerade in Katutura weitaus höher liege. „Die meisten Männer lassen sich gar nicht testen.“ Und dann erhält ihre Stimme einen wütenden Tonfall. „Die Männer müssten Kondome benutzen, gerade weil hier Polygamie traditionell noch Gang und Gäbe ist.“ Für die betroffenen Frauen stellt diese Forderung an ihre Männer jedoch eine schier unüberwindliche Hürde dar, weil sich ihre Partner in der patriarchalisch geprägten Gesellschaft vielfach weigerten – unter vorgeschoben Traditionen. So reiße ein HIV-infizierter Mann oft mehr als 50 Menschen in seinem Umfeld, seine Frauen und seine Kinder, mit in die Hölle. Die mittlere Generation in Namibia sterbe unaufhaltsam weg. Übrig bleiben die unzähligen Aids-Waisen, die das Sterben ihrer Eltern begleiten und dann bei betagten Großeltern, Tanten, Nachbarn oder weitläufigen Verwandten – oft in einfachsten Verhältnissen – aufwachsen und häufig selbst HIV positiv sind. Das Netz dieser „erweiterten“ Familien fängt viele dieser elternlosen Kinder auf, doch viele landen auch in Waisenheimen.
„Ein großes Problem der Kinder in diesen Heimen ist die Langeweile, mit der sie hier jeden Tag konfrontiert sind.“ Anna weist auf die immer noch winkenden Kinder im Hintergrund. „Keiner kümmert sich, hat wirklich Zeit für sie.“
Tonic mit Ghandi
Pause machen wir in einer Art Pub im Hinterhof einer Autowerkstatt. Dort können wir auf die Toilette gehen und eine Cola kaufen. Verschwitzt, dankbar und schon voller Eindrücke betreten wir die kleine Halle, in der ein Billardtisch und eine alte Jukebox steht. Ein kleiner Junge tanzt zur Musik. Eifrig bedienen wir die Erinnerungen an unsere eigene Kindheit, indem wir Münzen in den singenden Automaten werfen, während Anna sich mit einem Tonicwater in einen der weißen Plastikstühle drapiert und uns mit ihrer etwas rauen, fesselnden Stimme mehr über sich erzählt. Dass sie lange im Tourismussektor gearbeitet hat, dass Learning-by-doing sie dahin gebracht hat, wo sie heute steht, dass sie 2011 Katu Tours gegründet hat, dass sie mit der Tour auch die einheimischen Märkte und Verkaufsstände stärken möchte, die Vielseitigkeit, die Kultur und die historische Entwicklung des ehemals nur Schwarzen-Bezirks zeigen will, dass sie aber auch sich selbst damit eine Möglichkeit schaffen wollte, finanziell auf eigenen Beine zu stehen. „Selbständigkeit ist hier der Schlüssel für ein besseres Leben zum (Über-)Leben.“ Und dann schaut die Mittdreißigerin uns mit ihren bedeutungsvoll geöffneten braunen Augen an und zitiert Mahatma Gandhi: „Be the change you wish to see in the world – sei du selbst die Veränderung, die du dir auf der Welt wünschst.“
Präsident Trump ist schuld
Bevor wir zum Oshetu Market radeln, halten wir noch an einer der zwei Kliniken von Katutura. Hauptsächlich arbeiten hier Krankenschwestern, Ärzte gäbe es kaum. Doch die Versorgung sei für einfache Erkrankungen ausreichend und auch kostengünstig. Nur, so erzählt Anna, wurde kürzlich die Psychiatrie aus Kostengründen geschlossen. Jedoch litten gerade viele Aids-Patienten unter psychischen Traumatas und die liefen jetzt alle wieder auf der Straße herum. „Und Präsident Trump“, Anna rümpft missmutig ihre Nase und nickt in eine unbestimmte Richtung „will die Gelder im Kampf gegen HIV kürzen.“ Für viele Betroffene, die bisher die notwendige Versorgung und Medikamente günstig bekommen hätten, sei dies ein Todesurteil. Es bliebe nun abzuwarten, was passiert, wenn es dazu kommt.
Geschnetzeltes und frische Tomaten für weiße Mägen
Letzter Stopp ist der Oshetu Market, einer mit einer Wellblechkonstruktion überdachten, großen Markthalle. Ein schattiger Ort nach der Fahrradfahrt durch die Hitze des ehemaligen Townships, doch voller Gerüche und neuer Eindrücke. Wir sind die einzigen Weißen in einem Gewimmel von Schwarzen.
Anna zeigt uns an den Ständen duftende Gewürze, eine Art gedörrten Spinat, ein wenig wie Esspapier, nur grün, und dicke, beige-weiße, getrocknete Schmetterlingsraupen. Wir lassen uns diese von der netten Marktfrau, die ein kleines, pausbackig grinsendes Baby auf dem Arm hält, munter einpacken. Die Idee: ein namibianischer Abend zu Hause, voller Erinnerungen an die afrikanische Weite, die Tiere, die Landschaften, die Menschen – und die Eindrücke, die wir hier in Katutura noch einmal auf eine ganz andere Art und Weise erleben dürfen.
Anna fordert uns auf, uns umzuschauen und vorbeizuschlendern, zum Beispiel vorbei an den Grillständen, mit offenem Feuer und Grillrost, hinter denen schwitzende, lachende und mit ihren Kunden palavernde Männer stehen. Sie wenden die dampfenden Fleischsteifen, die vermutlich von den Rindern stammen, deren abgetrennte Köpfe und Hufe achtlos am Boden liegen. In einer Styropor-Box erhalten wir dann eine Portion „Geschnetzeltes“ mit einem scharfen Gewürz. Dazu lassen wir uns noch eine frische, reife Tomate zu einem fein geschnittenen Salat zubereiten und essen dies mit Appetit – eigentlich ein No-Go in Afrika und wir ahnen schon, dass wir es in den nächsten Tagen bereuen werden.
Ich schlendere weiter, die Eindrücke in mich aufsaugend, als ein Mann neben mir eine plötzliche Bewegung mit seinen Armen macht. „Buh!“, dann schaut er mich provokant an und grinst. Ich zucke zunächst erschreckt zusammen – dann grinse ich auch. Das Verhältnis zwischen Schwarz und Weiß ist noch völlig ungeklärt, hier in Katutura, das wird mir augenblicklich klar.
Der Ort, an dem wir sein wollen
Zur Mahlzeit haben wir an einer der Stände ein paar Dosen mit Softdrinks gekauft. Ein großer Mann schlendert am Tisch vorbei, nimmt sich eine unserer Fanta-Dosen, die am Tischrand steht, und trinkt gierig einen Schluck. Anna springt sofort von ihrem Stuhl auf, baut sich in ihrer nicht sonderlich großen vollen Größe vor dem Mann auf, schaut ihn verächtlich an und sagt etwas zu ihm, das wir nicht verstehen können. Er guckt schuldbewusst und gibt ihr das Getränk zurück, das sie in einer langsamen Bewegung wieder an unseren Tisch stellt. Keiner von uns traut es sich, die Fanta anzurühren. Wir erkennen für uns, es sind – hier an diesem Ort – noch viele kulturelle Brücken zu schlagen, noch viele gegenseitige Vorurteile zu überwinden. Die können nicht verleugnet werden. Aber Anna ist ein Bindeglied – und sie schlägt Wellen mit ihrer ganz besonderen Art und Weise, Menschen miteinander zu verbinden.
Wir radeln zurück zum Soweto Market und lassen uns dort lange schwarze Zöpfe flechten, von den inzwischen fröhlich mit uns plappernden Zöpfeflechterinnen aus Matutura – dem Ort wo wir sein wollen. So nennen die Bewohner ihren Stadtteil heute.